■ Im Fokus
«Die Finanzmärkte sind zu ungeduldig!»
«Unruhe und Unsicherheit ist der Normalzustand», sagt Prof. Dr. Tobias Straumann, Professor an der Universität Zürich, im Gespräch. Das Gefühl, dass wir uns in einer Zeit mit ausserordentlich vielen Krisen befinden, täuscht also. Doch gerade deshalb, weil das Gefühl von Unsicherheit gross zu sein scheint, lohnt es sich, auf die Krisen der Vergangenheit zu schauen und Lehren daraus zu ziehen. Dafür ist wohl niemand besser geeignet als der Wirtschaftshistoriker.
«Krisen können wir bewältigen.»
Prof. Dr. Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker und Professor an der Universität Zürich
Interview: Fabienne Farner Fotos: Nicola Pitaro
Die aktuelle Situation sei keineswegs aussergewöhnlich, so Tobias Straumann. Historisch betrachtet führten vergleichbare Ereignisse immer wieder zu neuen Realitäten, die eine Neuausrichtung erforderten. Die etwa zwanzigjährige Stabilitätsperiode nach dem Ende des Kalten Krieges war eher die Ausnahme. Derzeit befinden wir uns wieder im Normalzustand, der von Unruhe und Unsicherheit geprägt ist. «Wir waren sehr verwöhnt», stellt Straumann fest.
Krisenmodus: eine neue Realität
Die Menschheit hat kontinuierlich Krisen gelöst: «Krisen sind bewältigbar. Die derzeitige Verzweiflung ist übertrieben, kommt aber nicht von ungefähr: Durch die langjährige Stabilität nach dem Kalten Krieg haben wir einen falschen Massstab entwickelt», sagt Straumann. Auch die jetzige Polykrise ist nicht die Ausnahme. Es ist jedoch zentral, dass die grossen, relevanten Krisen in den Vordergrund gestellt werden. Während Konflikte wie jener in der Ukraine oder jener im Nahen Osten schwerwiegend sind und oft nur stabilisiert werden können, ist beispielsweise die Energiekrise lösbar. Straumann hält jedoch fest: «Die Erwartungshaltung, dass es für jede Krise eine Lösung gibt, ist falsch. Das ist äusserst selten der Fall.»
Mit Blick auf die Schweiz drängt kurzfristig die Lösung des Problems der Energieversorgung. Im Gegensatz zu den aktuellen geopolitischen Krisen ist die Schweiz beim Ausbau der einheimischen Stromproduktion weitgehend autonom. Die Preise allerdings hängen sehr stark auch vom europäischen Strommarkt ab. «Für die europäische Wirtschaft ist es entscheidend, dass die Energiepreise wieder sinken, um weitere wirtschaftliche Auswirkungen zu minimieren.» Die grüne Energietransformation ist wichtig, doch laut Straumann ist Ungeduld nicht angebracht: «Diese anspruchsvolle Umstellung benötigt Zeit, damit nicht eine selbst herbeigeführte Energieknappheit ausgelöst wird.» Historisch gesehen gab es noch nie eine solche bewusste Änderung der Energiesysteme.
Globalisierung, ein Brandbeschleuniger
Nach dem Kalten Krieg erlebte die Globalisierung einen weiteren Schub. Die Menschheit profitierte vom Wohlstand, welcher durch die Globalisierung herbeigeführt wurde. Doch sie hat gleichzeitig die Anfälligkeit für Störungen erhöht, Krisen werden komplexer. Straumann glaubt nicht an einen Zusammenbruch der Globalisierung; ein solcher würde einen massiven Krieg der Grossmächte bedingen. Eher möglich ist eine Pause oder Umlagerungen in der Globalisierung, und in Bereichen wie der Energie oder Sicherheitspolitik existiert ein Trend zur Renationalisierung. Nichtsdestotrotz sagt Straumann: «An eine Renationalisierung im grossen Stil glaube ich nicht. Entsprechend gehen globale Krisen alle etwas an.» Das hat die Pandemie klar aufgezeigt. Eine solche wäre laut Straumann auch in Zukunft nicht zu verhindern, doch die präventiven Massnahmen sind ausbaubar, beispielsweise durch grössere Medikamentenvorräte.
Ein effizientes Krisenmanagement beeinflusst den Verlauf und die Intensität von Krisen erheblich. Aus wirtschaftlicher Perspektive erwies sich die Covid-Krise hierzulande als harmlos. Auch während der Finanzkrise blieb die Schweiz im internationalen Vergleich weitgehend stabil. «Trotz Währungsaufwertungen zeigt sich die Schweiz als äusserst krisenresistent», stellt Straumann fest.
Diese Resilienz ist nicht einzigartig in Europa; es gibt andere kleine Länder, die sich über Generationen hinweg an externe Schocks gewöhnt und als Reaktion darauf Institutionen aufgebaut haben. Beispiele sind das Bildungssystem oder die Arbeitslosenversicherung mit Kurzarbeit – solche Systeme sind typisch für kleine Länder wie die Schweiz, grössere Länder sind meist träger. Laut Straumann hat die Schweiz aufgrund der wiederholten Konfrontation mit Krisen in der Vergangenheit die richtigen Institutionen entwickelt. Und weiter: «In der Vergangenheit wurde viel richtig gemacht, damit wir heute die richtigen Mittel zur Krisenbekämpfung und Prävention zur Verfügung haben. Viele dieser Institutionen erachten wir heute als selbstverständlich.»
Ein nächstes Beben ist nicht ausgeschlossen
Mit Blick auf den Finanzplatz Schweiz identifiziert Straumann zwei wesentliche Risiken: die Übernahme der CS durch die UBS und den Immobilienmarkt. Er zeigt sich jedoch kurzfristig optimistisch. Aktuell scheint die Situation der Grossbank stabil zu sein, nun muss die Integration vorangetrieben werden. «Die Führungsebene bringt umfangreiche Erfahrung mit und versteht ihre Aufgaben», so Straumann. Auf dem Immobilienmarkt trägt die hohe Einwanderung dazu bei, dass die Nachfrage nach Wohnraum hoch bleibt. Zudem ist der Arbeitsmarkt stabil, sodass nicht unmittelbar ein Verlust der Beschäftigung für verschuldete Personen droht. Dennoch besteht nach Straumann die Möglichkeit einer nächsten Disruption auf dem Schweizer Finanzplatz: «Die Tatsache, dass man kritische Szenarien nicht ausschliessen kann, impliziert ein bestehendes Risiko.»
Straumann sieht Parallelen zu den 1970er-Jahren, insbesondere im Hinblick auf die Zinspolitik und die Inflation. Obwohl Ähnlichkeiten bestehen, betont er, dass die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale heute geringer ist. 1970 machte die Industrie bis zu 50 Prozent des BIP aus, und die gut organisierten Gewerkschaften konnten die Lohnanpassungen schneller durchsetzen. Im Dienstleistungssektor ist dies schwieriger. Aktuelle Daten zeigen, dass Reallohnverluste nicht überall vollständig ausgeglichen werden. Dies begrenzt die Wahrscheinlichkeit einer Lohn-Preis-Spirale und erleichtert den Kampf gegen die Inflation. Doch Straumann mahnt: «Die Finanzmärkte sind zu ungeduldig! Ich erwarte nicht, dass wir so schnell wieder zur Normalität zurückkehren werden.» Er warnt vor dem Risiko einer erneuten Energieknappheit, das sich zwar nicht unmittelbar in der Kerninflation widerspiegelt, aber langfristig den Warenkorb beeinflusst.
Steckbrief Tobias Straumann
Funktion: Ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte, Dozent am Institut für Volkswirtschaft und akademischer Leiter des MAS in Applied History an der Universität Zürich
Jahrgang: 1966
Familie: verheiratet, zwei Kinder, wohnhaft in der Stadt Zürich
Ausbildung: Schulen in Baden AG, Studium in Zürich, Paris, Bielefeld und Berkeley (Kalifornien)
Die wachsenden Staatsschulden, insbesondere in den USA, bereiten Straumann mehr Sorgen. Dies liegt nicht unmittelbar an der Erwartung einer Finanz- oder Schuldenkrise, sondern vielmehr daran, dass der Handlungsspielraum für staatliche Aufgaben schrumpft: «Die Faustregel besagt, dass sich eine Weltmacht auf dem Abstieg befindet, wenn sie mehr für Zinszahlungen als fürs Verteidigungsbudget ausgibt. Auf die USA trifft dies nun zu.» Auch in Italien ist das der Fall: Der Staat hat kein Geld mehr für grundlegende staatliche Investitionen, laut Straumann keine gute Entwicklung. Für die Schweiz gibt er jedoch Entwarnung: «Auch hier ist die Schweiz durch die Schuldenbremse gut positioniert, um in Krisenzeiten flexibel zu handeln.» ■