■ Ein Blick auf die Wall Street

Renaissance der amerikanischen Industrienation?

Die ersten Monate der zweiten Amtszeit von Donald Trump verliefen turbulent. Allein in den ersten 100 Tagen hat er rund 140 Dekrete erlassen. Tatenlosigkeit lässt sich dem 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht vorwerfen. Welche Ziele verfolgt die amerikanische Regierung? Wir fragen nach bei Jens Korte, «unserem» Mann an der Wall Street.

GKB: Jens Korte, es waren turbulente Wochen, die teils auch durch die Zollpolitik des amerikanischen Präsidenten verursacht wurden. Welches sind die Ziele, die Donald Trump und seine Regierung verfolgen?

Jens Korte: Donald Trump und die Leute, die hinter ihm stehen, haben das Gefühl, dass die USA über Jahrzehnte ausgenutzt wurden. Das spiegle sich im starken Dollar und in den hohen Handels­bilanzdefiziten wider. Laut den jüngsten Daten hat das Handels­bilanz­defizit im März mit 140 Milliarden US-Dollar einen neuen Rekordwert erreicht. Nun soll die Produktion wieder verstärkt ins eigene Land zurückgeholt werden. Als Druckmittel dafür werden die Zölle eingesetzt.

Ist es überhaupt realistisch, sich von ausländischen Lieferketten unabhängiger zu machen?

Kurzfristig mit Sicherheit nicht! Donald Trump ist nicht der erste Präsident, der das versucht. Schon Ronald Reagan träumte von einer Renaissance der amerikanischen Industrienation. In den 1950er- und 1960er-Jahren entfiel rund ein Drittel der US-Jobs auf die Industrie, heute sind es nur noch knapp acht Prozent. Aber woher sollen die Fach­kräfte kommen? Niemand will Massen­arbeit an Fliessbändern oder Näh­maschinen, zumal Auto­matisierung, Robotik und KI heute viel weniger Per­sonal erfordern. Im vergangenen Jahr machten Stahl, Autos, Maschinen, Elektrozubehör und Pharmazeutika rund 77 Prozent des Handelsbilanzdefizits aus. Da ist die Forderung nach stärkerer heimischer Produktion nachvollziehbar. Doch mit Zöllen allein lässt sich das kaum lösen. Im Gegenteil, das birgt erhebliche Risiken.

Jens Korte

Steckbrief Jens Korte

Funktion: «Mister Wall Street», Korrespondent in den USA

Jahrgang: 1969

Familie: Verheiratet, ein Sohn

Ausbildung: Ausbildung zum Industriekaufmann, Studium der Volkswirtschaftslehre in Berlin

Wird auch die US-Regierung diese Risiken erkennen und künftig sanfter auftreten?

Ich bin da skeptisch. Wir haben zwar in den vergangenen Wochen gesehen, dass nichts in Stein gemeisselt ist. Nehmen wir zum Beispiel den Oster­montag. Da hatte Donald Trump noch das Aus des US-Notenbankchefs Jay Powell gefordert. Die Finanzmärkte, vor allem der Bondsmarkt, drehten durch. Plötzlich hiess es aus dem Weissen Haus, die Unabhängigkeit der Noten­bank sei nie infrage gestellt worden. Zudem sei es gut möglich, bezüglich der Zölle einen Deal mit China zu erreichen. An der Wall Street folgte daraufhin die längste Gewinnsträhne seit 2004, also seit über 20 Jahren. Nichts scheint also unmöglich. Aber ich denke, dass Donald Trump und seine Unterstützer im Hintergrund ihre Ziele nicht einfach so aufgeben werden. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir auch in den kommenden Monaten mit einigen Schwankungen rechnen müssen. Ob die grösste Volkswirtschaft der Welt sogar in eine Rezession abdriften könnte, wird sich zeigen. ■