■ Im Fokus
«Das Unvorstellbare ist möglich geworden.»
Kaum ein Land prägt das weltpolitische und wirtschaftliche Geschehen so stark wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Ob in Fragen der globalen Sicherheit, der internationalen Handelsordnung oder der Rolle des US-Dollars als Leitwährung – Entscheidungen aus Washington haben weitreichende Konsequenzen. Doch werden die USA dieser Führungsrolle heute gerecht? Welche Herausforderungen stellen sich innen- wie aussenpolitisch, und was bedeutet das für die Weltordnung von morgen? Wir sprechen mit Prof. Dr. Stefanie Walter, Politökonomin an der Universität Zürich und ausgewiesene Expertin für internationale Beziehungen und wirtschaftspolitische Dynamiken. Im Interview ordnet sie die aktuelle Lage ein und erklärt, weshalb die USA trotz wachsender Konkurrenz aus China und innenpolitischer Spannungen eine Schlüsselrolle im globalen Machtgefüge spielen.
«Wenn die USA ihren aktuellen Kurs beibehalten, wird ihr globaler Einfluss langfristig sinken – selbst wenn dieser Prozess schleichend verläuft.»
Prof. Dr. Stefanie Walter

Interview: Jeannine Mülbrecht Fotos: Ethan Oelman
Frau Professor Walter, die geopolitische Lage bleibt angespannt: Kriege, wirtschaftliche Unsicherheit, Machtverschiebungen. Auch neue Zölle sorgen für Unruhe. Welche Rolle spielen die USA aktuell im globalen Gefüge – und wie fest sitzt Washington noch am Steuer?
Die USA sind weiterhin eine Supermacht – aktuell immer noch die mächtigste Nation der Welt. Solche Machtverhältnisse ändern sich nicht über Nacht. Aber wir erleben gerade eine Phase, in der sich die globale Ordnung merklich verschiebt: China, die Emerging Markets und der globale Süden gewinnen an Einfluss. In den USA selbst sorgt dieser relative Machtverlust zunehmend für innenpolitische Spannungen. Die radikalen Brüche in der amerikanischen Aussenpolitik der Trump-Administration verstärken diesen Wandel. Wenn die USA ihren aktuellen Kurs beibehalten, wird ihr globaler Einfluss langfristig sinken – selbst wenn dieser Prozess schleichend verläuft.
Mit Donald Trump im Amt wird erneut über die Verlässlichkeit der USA als internationaler Partner diskutiert. Wie viel aussenpolitische Kontinuität dürfen wir erwarten, und wo drohen Brüche?
Es gibt gewisse Kontinuitäten, etwa die langjährige Kritik an Europas Verteidigungsausgaben oder die strategische Ausrichtung auf China. Doch die Situation hat sich unter Donald Trump dramatisch verändert – ebenso wie der Umgang mit internationalen Institutionen. Die Bereitschaft, etablierte Ordnungen infrage zu stellen oder gar zu zerstören, ist neu und radikal. Sei es die NATO, die WTO oder die liberale Weltordnung insgesamt: Die USA agieren zunehmend unilateral. Das hat massive Auswirkungen auf das Vertrauen anderer Staaten. Selbst ein demokratischer Regierungswechsel würde diesen Vertrauensverlust nicht vollständig heilen.
Wie verändert sich das Verhältnis der USA zu Europa, und welche Folgen könnte das für wirtschaftliche Kooperationen, aber auch für sicherheitspolitische Allianzen haben?
Das transatlantische Verhältnis war über Jahrzehnte eng – wirtschaftlich, politisch und wertebasiert. Doch heute sehen wir fundamentale Unterschiede: bei der Handelspolitik, bei sicherheitspolitischen Fragen und nicht zuletzt beim Werteverständnis. Besonders kritisch ist, dass sich Europa auf die sicherheitspolitische Zusage der USA nicht mehr verlassen kann. Der Gedanke, dass die USA bei einem Angriff auf ein europäisches NATO-Mitglied nicht zu Hilfe eilen könnten, war früher undenkbar. Heute ist er real. Diese Unsicherheit zwingt Europa dazu, sich unabhängiger aufzustellen – sicherheitspolitisch wie wirtschaftlich.

Der globale Finanzmarkt reagiert sensibel auf politische Entwicklungen. Welche wirtschaftspolitischen Entscheidungen aus den USA haben Ihrer Einschätzung nach das grösste internationale Gewicht?
Der derzeit grösste Unsicherheitsfaktor sind die US-Zölle. Sie führen nicht nur zu direkten wirtschaftlichen Verwerfungen, sondern erzeugen vor allem enorme Volatilität. Hinzu kommt die Gefahr einer Rezession und anhaltender Inflation in den USA. Auch die Deregulierung des Finanzsystems und mögliche Steuerausfälle durch den Abbau staatlicher Kontrollinstanzen sind besorgniserregend. Wenn das Vertrauen in den Dollar oder US-Staatsanleihen zu bröckeln beginnt, könnten sich auch internationale Finanzströme neu ausrichten – mit weitreichenden Konsequenzen.
Welche Auswirkungen könnte eine nationalistisch geprägte US-Handelspolitik auf den internationalen Waren- und Kapitalfluss haben – insbesondere für exportorientierte Länder wie die Schweiz?
Kleine, offene Volkswirtschaften wie die Schweiz sind besonders anfällig für protektionistische Massnahmen. Zölle auf US-Seite oder Gegenmassnahmen anderer Staaten können rasch zu «Ripple-Effekten», also Kettenreaktionen, führen. Ein Beispiel: In Trumps erster Amtszeit führten Zölle auf chinesischen Stahl zu einem Überangebot in Europa. Die EU reagierte als Schutzmassnahme mit Kontingenten für Stahlimporte – mit negativen Folgen auch für die Schweizer Industrie. Wenn das regelbasierte Welthandelssystem weiter erodiert, droht der Schweiz als exportabhängigem Land ein strukturelles Problem.
Welche Risiken und Chancen ergeben sich aus der aktuellen US-Politik für die Schweizer Finanz- und Exportwirtschaft?
Aus meiner Sicht gibt es drei zentrale Risiken: erstens den möglichen Zerfall des regelbasierten Welthandelssystems; zweitens die sicherheitspolitische Instabilität, die auch die Schweiz – etwa durch Cyberrisiken – direkt betreffen kann; und drittens den schwieriger werdenden Balanceakt zwischen den USA, Europa und China. In einer Welt, die stärker in Machtblöcke zerfällt, wird es für die Schweiz als neutrales Land zunehmend komplizierter, ihre Position zu behaupten.
Die Chance besteht darin, dass wir als Gesellschaft den Wert internationaler Kooperation und Kompromissbereitschaft wieder stärker schätzen lernen. Vielleicht führt uns gerade diese Erfahrung zurück zu einem realistischeren, aber auch verantwortungsvolleren Umgang mit unseren Partnern – nicht zuletzt innerhalb Europas.
Der Systemwettbewerb zwischen den USA und China prägt viele globale Debatten. Wie stabil ist dieses Spannungsverhältnis, und welche Rolle spielt Europa in diesem Kontext?
Machtverschiebungen wie jene zwischen den USA und China verlaufen selten konfliktfrei. Der Aufstieg Chinas und des globalen Südens ist ein struktureller Trend – unabhängig davon, wer in den USA regiert. Die zentrale Frage ist, ob dieser Wandel kooperativ oder konfrontativ gemanagt wird. Europa befindet sich dabei in einer ambivalenten Rolle: wirtschaftlich stark, sicherheitspolitisch eher schwach. Das zwingt die EU – und damit indirekt auch die Schweiz – zu einer strategischen Neuausrichtung. Der bisherige Automatismus, wonach die USA der verlässlichere Partner sind, wird zunehmend infrage gestellt.

Steckbrief Prof. Dr. Stefanie Walter
Funktion: Ordentliche Professorin für internationale Beziehungen und politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft und Ko-Leiterin des Zentrums für Krisenkompetenz der Universität Zürich.
Jahrgang: 1977
Familie: verheiratet, 2 Kinder
Ausbildung: Studium der Verwaltungswissenschaft in Konstanz, Montreal und Barcelona (1996 – 2003); Doktorat an der ETH Zürich zu politischer Ökonomie von Währungskrisen (2007); Postdoc-Stationen als Oberassistentin an der Universität Zürich (2007 – 2008) und als Fritz-Thyssen-Fellow an der Harvard University (2008 – 2009); Juniorprofessorin für internationale und vergleichende politische Ökonomie am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg (2009 – 2013); seit September 2013 ordentliche Professorin für internationale Beziehungen und politische Ökonomie an der Universität Zürich.
Sie beschäftigen sich mit wirtschaftlichen Krisen und Populismus. Was sagt Trumps Wiederwahl über die innenpolitische Stimmung in den USA und über das Vertrauen in internationale Institutionen aus?
Die USA sind heute tief gespalten. Demokraten und Republikaner leben teils in parallelen Realitäten – mit eigenen Medien, Narrativen und Wahrheiten. Dieses Misstrauen untergräbt die demokratische Kultur. Hinzu kommt der Einfluss von Geld in der Politik, der die Legitimität des Systems weiter schwächt. Trumps Erfolg zeigt auch: Normverschiebungen, etwa beim Umgang mit Justiz, Medien oder Verfassung, werden von einem Teil der Bevölkerung mitgetragen. Das Vertrauen in Institutionen – sowohl nationale als auch internationale – und ihre Stabilität leiden massiv darunter.
Die US-Notenbank, der Dollar und der amerikanische Finanzsektor prägen die globalen Märkte. Inwiefern bleiben die USA wirtschaftlich «unverzichtbar», und wo zeigt sich Abhängigkeit?
Der Dollar ist nach wie vor die Leitwährung, der US-Finanzmarkt extrem einflussreich. Solche Systeme ändern sich nicht leicht, weil Netzwerkeffekte sie stabilisieren. Doch diese Stabilität basiert auf Vertrauen – in die Rechtsstaatlichkeit, in die Zahlungsfähigkeit der USA, in die Unabhängigkeit der US-Notenbank, der Federal Reserve. Wenn dieses Vertrauen durch politische Eingriffe oder erratische Entscheidungen massiv erschüttert wird, kann das System unter Druck geraten. Noch ist der Dollar konkurrenzlos – aber das muss nicht ewig so bleiben.
Wenn Sie einen Blick nach vorn wagen: Welche globalen Trends – politisch wie wirtschaftlich – sollten wir besonders im Auge behalten, wenn wir die Rolle der USA verstehen wollen?
Das prägende Stichwort der kommenden Jahre wird «Unsicherheit» sein – in der US-Innenpolitik, in der internationalen Ordnung, in der Wirtschafts- und Handelspolitik. Gleichzeitig erleben wir eine Normalisierung des Unvorstellbaren. Was früher undenkbar war – etwa ein Rückzug der USA aus der NATO oder die Annexion fremder Gebiete –, ist heute nicht mehr auszuschliessen. Für Europa und die Schweiz heisst das: beobachten, diversifizieren und sich unabhängiger aufstellen. Denn der Preis blinden Vertrauens könnte in Zukunft hoch sein. ■