Im Fokus

«Vernünftige Entscheidungen machen glücklicher.»

Interview: Oliver Seifried Fotos: Ethan Oelman

Gefühle und Unterbewusstsein beeinflussen Anlageentscheidungen und führen häufig zu Fehleinschätzungen an der Börse. Ein Interview mit Gerhard Fehr, CEO von Fehr­Advice & Partners und Verhaltensökonom, über Emotionen bei der Geldanlage und ­darüber, wie Anlegerinnen und Anleger mit dem Einsatz von Erkenntnissen aus der Verhaltensökonomie zu einer besseren Anlageperformance gelangen können.

Herr Fehr, womit beschäftigt sich die Verhaltensökonomie?

Die Verhaltensökonomie untersucht systematisch menschliches Verhalten. Durch Erkenntnisgewinn entwickelt sie bessere Erklärungen und steigert die Vorhersagekraft von Verhaltensweisen, beispielsweise für die Politik, die Wirtschaft und den Finanzsektor. Für Anlegerinnen und Anleger sind diese Erkenntnisse relevant, weil sie mithilfe der Verhaltensökonomie die Möglichkeit haben, ihre Anlagestrategie für eine möglichst hohe Rendite zu adjustieren.

Welche verhaltensökonomischen Trends beobachten Sie derzeit?

Ein grosser Trend ist menschliches Verhalten jenseits von Geboten und Verboten. Das sehen wir gerade in der Coronakrise, denn ein Gebot oder Verbot heisst nicht, dass man sich daran hält. Verhaltensweisen wie Eigenverantwortung, die wir in der Coronakrise bräuchten, um die Pandemie schneller zu überwinden, fehlen teilweise. Manche Menschen maximieren ihren eigenen Nutzen kurzfristig, indem sie Freunde treffen oder ausgehen. Das ist Eigennutz, aber keine Eigenverantwortung.

Hat der Homo oeconomicus, also der vernünftige Mensch, somit ausgedient?

Mitnichten! Unsere gesamte Welt ist darauf aufgebaut, dass wir uns weiterentwickeln, weil wir in der Lage sind, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Wir sehen auch, dass Menschen, die vermehrt und systematisch vernünftige Entscheidungen treffen, glücklicher und vermögender sind und bessere Jobs haben. Der Homo oeconomicus war in der wissenschaftlichen Entwicklung ein Zwischenschritt. Dessen Annahmen halfen, zahlreiche Erkenntnisse zu gewinnen und darauf basierend Institutionen zu errichten, die wir heute nicht hinterfragen. Letztlich war es aber auch nur ein Modell.

Ein zentraler Begriff aus der Verhaltensökonomie ist Nudging, auf Deutsch Stupsen. Was hat es damit auf sich?

Beim Nudging bleibt jemandes Entscheidungsfreiheit erhalten, während gewisse seiner Grundeinstellungen ohne den Einsatz von Regeln oder Vorschriften beeinflusst werden. Wenn wir Menschen die Wahl haben, entscheiden wir uns meist für die Standardoption. Unternehmen etwa verändern die Standardoption in ihrem Sinn und «stupsen» ihre Kundinnen und Kunden so zum gewünschten Verhalten. Auch in der Finanzindustrie kann menschliches Verhalten verändert werden. Ein guter Anlageberater macht das, indem er seiner Kundin oder seinem Kunden einen Stups gibt, eine bestimmte und erwünschte Handlung auszuführen.

Ist das nicht eine Art von Manipulation?

Nein. Eine Methode an sich kann nie ethisch oder unethisch sein. Es sind immer die Menschen dahinter, die sich ethisch oder unethisch verhalten. So kann Nudging positiv für Kundinnen und Kunden, aber auch negativ für den Eigennutz eingesetzt werden. Doch der Kern der Finanzbranche liegt im Vertrauen zwischen Kundinnen und Kunden und ihrer Bank. Ein Stups in die richtige Richtung bereichert diese Beziehung langfristig und verbessert dazu noch die Ertragsgrundlage.

«Wir sollten nicht risikofreudiger sein, wenn die Märkte steigen. Dennoch werden wir es.»

Gerhard Fehr, Verhaltensökonom

Was können Anlegerinnen und Anleger vom Nudging-Prinzip lernen?

Menschen sind sich nicht bewusst, dass sie eine Verlustaversion haben. Sie sehen eher das Chancen- als das Verlustpotenzial. Anlegerinnen und Anleger sollten sich daher stets fragen, wie hoch die maximal möglichen Verluste ausfallen können. Dadurch treffen sie die für sich besseren Entscheidungen, weil sie sich nicht nur auf das Positive, die Rendite, fokussieren. Anlegen ist auch mit Emotionen verbunden, die per se nichts Schlechtes sind. Sie sind wie ein Frühwarnsystem, das uns zeigt, was wir tun sollen und was nicht. Ein Verhaltenselement schadet uns aber meist: Impulsivität. Und impulsiv sind wir oft, wenn wir emotional sind.

Wie kann die Impulskontrolle gelingen?

Der Mensch alleine kann seine Impulsivität nicht vollständig kontrollieren, aber er kann impulsive Entscheidungen aktiv vermeiden. Es muss eine Synchronisation geben zwischen dem, was für die Anlegerin und den Anleger emotional und punkto Risiko verkraftbar ist, und dem, was sie oder er anlegt. Das Wichtigste ist, ein genug grosses und diversifiziertes Portfolio und einen guten Kundenberater zu haben. Geschulte Personen verfügen über eine Impulskontrolle und sagen beratend, was in turbulenten Zeiten an den Märkten zu tun ist.

Je kleiner der Bildschirm, desto schlechter die Anlageentscheidungen, besagen Studien. Was heisst das für Anlegerinnen und Anleger, die ständig ihr Portfolio auf dem Smartphone prüfen?

Anlegerinnen und Anleger handeln impulsiver und intuitiver, je kleiner der Screen ist. Viel wichtiger ist jedoch das Bewusstsein dafür, dass die Information des Marktes alt und nicht aussagekräftig ist. Es gibt nur wenige Anlegerinnen und Anleger, die mehr wissen als der Markt. Aber die prüfen auch nicht jede Viertelstunde ihr Portfolio. Prinzipiell muss jeder für sich annehmen, dass er ein uninformierter Anleger ist. In diesem Fall gibt es nur eine Anlagestrategie: langfristig, konsistent und nach dem Risikobedürfnis ausgerichtet. Und dafür muss ich nicht alle 15 Minuten das Handy konsultieren. Die Bildschirmgrösse rückt also in den Hintergrund.

Bei stetig steigenden Aktienkursen heisst es oft, es regiere die Gier. Trifft das zu?

Ich würde es eher Impuls nennen. Menschen haben andere Risikopräferenzen, wenn Märkte steigen und fallen. Das sollte aber nicht sein. Wir sollten nicht risikofreudiger sein, wenn die Märkte steigen. Dennoch werden wir es. Das ist aber keine Gier, sondern der Risikoappetit nimmt zu. Dafür gibt es keinen objektiven Grund. Vielmehr ergeben sich Handlungsoptionen, die bei steigenden Kursen als attraktiv empfunden werden.

Gilt das auch bei fallenden Märkten?

Da werden wir risikoavers – sowohl der Privatanleger als auch der professionelle Trader. Dessen kann sich keiner erwehren. Die Bank ist dabei der sichere Hafen für Anlegerinnen und Anleger, indem die Mitarbeitenden nicht diesen Mustern erliegen und immer systematisch im Interesse der Kundinnen und Kunden handeln, also den Pfad des langfristigen, nachhaltigen und vernünftigen Anlegens verfolgen. Dort liegt Zufriedenheit, Glück und letztlich auch Vermögen. Dass mehr Vermögen mehr Glück bedeutet, ist eine wichtige verhaltensökonomische Erkenntnis. Die Mär vom ­glück­lichen Armen gibt es nicht.

Steckbrief

Name: Gerhard Fehr

Funktion: Executive Behavioral Designer, CEO und Gründungspartner der FehrAdvice & Partners AG in Zürich seit 2009

Jahrgang: 1971

Familie: Verheiratet, zwei Kinder

Ausbildung: Harvard Business School Executive Education in Behavioral Economics, Studium der internationalen Betriebswirtschaftslehre in Wien und Los Angeles

Bisherige Karriere: Als Entrepreneur hat Gerhard Fehr das Familienunternehmen in den letzten zehn Jahren zum europäischen Marktführer in Behavioral Design, #Experimentability und #Digitalisierung geführt.

Sonstiges: Gerhard Fehrs persönliche Mission ist, Unternehmen und die Politik mit viel Inspiration experimentierfähig zu machen. Seine Leidenschaft: #Experimentability, #Behavioral Economics, #Irrational Leadership.