Im Fokus

«Die Zukunft: Automatisiert und veraltert.»

Megatrends beschreiben langfristige und komplexe Veränderungen der Welt. Sie wirken auf breiter ­gesellschaftlicher Ebene und beeinflussen Unternehmen, Institutionen sowie Individuen gleichermassen. Ein Interview mit Georges T. Roos, Zukunfts­forscher und Gründer des Zukunftsinstituts Roos Trends & Futures, über das Entstehen von Megatrends, wie sie unser Leben beeinflussen und wie Anlegerinnen und Anleger von ihnen profitieren können.

«Auch Gegentrends bieten Investitionspotenzial.»

Georges T. Roos, Zukunftsforscher

Interview: Jeannine Mülbrecht Fotos: Nicola Pitaro

Herr Roos, der Begriff Megatrend ist seit einigen Jahren in aller Munde. Doch was qualifiziert eigentlich einen Trend als «mega»?

«Der Fachbegriff Megatrend ist nicht das, was wir auch landläufig unter einem Megatrend – wie beispielsweise vegane Ernährung – verstehen. Für die Zukunftsforschung ist ein Megatrend eine übergeordnete Entwicklung und muss drei Bedingungen erfüllen: Erstens muss dieser langfristig sein, also mindestens zehn Jahre anhalten. Zweitens erscheint er global. Die Ausprägung des Megatrends kann zwar in Chur anders sein als in Accra (Ghana), aber die treibende Kraft dahinter ist dieselbe. Und drittens wirkt ein Megatrend ubiquitär, er betrifft alle Lebensbereiche.»

Megatrends definieren und verändern Rahmenbedingungen und sind deshalb oft mit gesellschaftlichen ­Herausforderungen verbunden. Und sie haben einen entscheidenden Nutzen: «Da sie prognostizierbar sind, kann man durch sie die Zukunft zu einem gewissen Grad vorhersagen», sagt Roos. Nichtsdestotrotz kann es jederzeit zu Störfällen kommen, die Megatrends und damit die Prognosen verändern.

Sie haben 16 Megatrends zu fünf grossen Transformationen heruntergebrochen, die die nächsten Jahrzehnte prägen werden. Welche sind das?

«Neben der allseits bekannten digitalen Transformation kommt es zur ökologischen Transformation, also einer Transformation aufgrund des Klimawandels und der Klimapolitik. Die geopolitische Transformation beschreibt die Auswirkungen des Systemwettbewerbs zwischen den Weltmächten, während die demografische Transformation Entwicklungen der Weltbevöl­kerung thematisiert. Zum Beispiel wird allein Afrika bis 2050 um eine Milliarde Menschen wachsen! Die fünfte Transformation ist die der Bio-Transformation. Sie umfasst Entwicklungen in der Biologie aufgrund wissenschaftlichen Fortschritts.»

Darüber hinaus gibt es laut Roos drei werdende, sogenannte embryonale Megatrends. Zum einen entstehen autonom agierende technische Systeme, unter anderem durch smarte Robotik und künstliche Intelligenz. Zweitens wird der Blockchain als Automatisierung der Vertrauensbildung eine zentrale Rolle zukommen. Der dritte embryonale Trend ist erneut die Bio-Transformation, durch welche die Biologie selbst ein Upgrade erhält. Laut Roos werden die Heilung von Erbkrankheiten und die Gewährleistung von Nahrungssicherheit etwa durch genetisch editierte Veränderungen möglich sein. Die drei embryonalen Trends erfüllen noch nicht sämtliche Kriterien der Megatrends: Sie sind teilweise zu jung oder wirken nicht global, sondern nur in der hochtechnisierten Welt. Vor allem aber sind sie noch nicht ubiquitär: «Ich wette aber, dass sie das spätestens in zwanzig Jahren sein werden», meint Roos.

Steckbrief Georges T. Roos

Funktion: Zukunftsforscher

Jahrgang: 1963

Familie: Zwei Kinder

Ausbildung: Studium der Pädagogik, Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich; Abschluss als lic. phil. I.

Inwiefern hat Covid-19 die bisherigen Megatrends beeinflusst?

«Natürlich hatte die Pandemie einen Einfluss auf die bestehenden Megatrends. Gewisse, wie die Digitalisierung oder Gesundheit, wurden verstärkt. Andere, wie die Nomadisierung – sie beschreibt, dass wir mehr und mehr unterwegs sind –, wurden durch Covid-19 irritiert. Da Megatrends aber übergeordnete Entwicklungen sind, verschwinden sie nicht plötzlich, ebenso ­wenig, wie neue Megatrends plötzlich entstehen. Sie bestehen aus einer Vielzahl an beobachtbaren Veränderungen und durchlaufen keinen einheitlichen Lebenszyklus.

So können Megatrends auch wellenförmig an Bedeutung gewinnen oder verlieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Globalisierung: Sie wird seit vielen Jahrzehnten beobachtet. In den letzten zwei ­Jahren beobachten wir allerdings Irritationen bei der Globalisierung, da die glo­balen Wertschöpfungsketten im Machtspiel zwischen China und den USA ihre Stör­anfälligkeit offenbarten – nicht zuletzt wegen Covid. Trotzdem gibt es keine Hinweise darauf, dass die Globalisierung zu einem Ende kommt.»

Sie beschreiben unter anderem die «Aging Society» und die Kosten der alternden Bevölkerung. Wie schätzen Sie die Rolle der Finanzbranche ein, um diesem Megatrend zu begegnen?

«Mir scheint nicht die Möglichkeit der künftigen Rentenfinanzierung die zentrale Frage, sondern wie die entstehenden Lasten gerecht auf die Generationen verteilt werden. Noch im Jahr 1960 gab es pro Rentnerin und Rentner sechs Personen im erwerbsfähigen Alter; 2040 werden es noch zwei Erwerbstätige sein. Natürlich kann man den zweien künftig mehr finanzielle Verantwortung aufbürden, doch ist das gerecht? Die persönliche Vorsorge gewinnt entsprechend enorm an Bedeutung.»

Laut Roos stellt die «Aging Society» die Finanzbranche vor weitere Herausforderungen, da es den heute 65-Jährigen gesundheitlich besser geht als Leuten im Rentenalter vor 40 Jahren. Durch das sogenannte «Downaging» sind Rentnerinnen und Rentner heute aktiver – als Konsumentengruppe, als Investorinnen, aber teilweise auch als Menschen, die eine Finanzierung für eine zweite Karriere als Unternehmer nachfragen. «Damit muss sich die Finanzbranche auseinandersetzen.»

Zukunftsforschung: die Zukunft vorstellbar machen

Zukunftsforschung ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich auf methodischer Grundlage mit Zukunftsfragen beschäftigt. Eine gängige Methode ist das Erstellen von Szenarien. Durch Wenn-dann-Überlegungen werden Zukunftsent­wicklungen systematisiert. Megatrends beschreiben übergeordnete Wandlungsmuster, die in der Vielzahl von Veränderungen der Welt erkennbar sind. So möchten Zukunftsforschende aufzeigen, wo die stärksten Treiber dieser Veränderungen liegen, um Entscheidungsträgerinnen und -träger – beispielsweise in Familien, Unternehmen oder Staaten – in ihren Zukunftsentscheidungen zu unterstützen.

Unter «Ökologisierung» beschreiben Sie, dass die Schweiz einen zu grossen ökologischen Fussabdruck hat. Was kann die Gesellschaft hier tun?

«Schon heute ist der Druck spürbar, nur in Produkte oder Firmen zu investieren, die zu einer Verbesserung der Klimasituation beitragen. Jede und jeder Einzelne von uns muss einen eigenen Beitrag im Bereich des Konsums und Lebensstils, aber auch des Umgangs mit den eigenen Finanzen, leisten. Das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ist eine gigantische Herausforderung, für die es ein ebenso grosses Engagement von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft braucht.»

Auch durch den Megatrend «Digitalisierung» steht die Gesellschaft vor enormen Herausforderungen. Doch es werden auch unzählige wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet. Roos zufolge kann die Digitalisierung in drei Ebenen unterteilt werden: Auf der Kommunikationsebene, die E-Mails, Smartphones und ­Videokonferenzen beinhaltet, ist die heutige Gesellschaft auf einem fortschrittlichen Stand. Anders auf der Prozessebene: «Oft überschätzen sich Unternehmen bei der Digitalisierung ihrer Prozesse. Ein Beispiel ist das berühmte Faxgerät im Bundesamt für Gesundheit. Ich dachte, solche gibt es nur noch im Technikmuseum.» Die dritte Ebene ist die Digitalisierung von Geschäftsmodellen. Dort steht die Gesellschaft laut Roos noch am Anfang.

Wie können Anlegerinnen und Anleger Ihrer Meinung nach von Megatrends profitieren?

«Megatrends bergen vielfältiges Potenzial – auch für die Finanzanlage. Doch es ist Vorsicht geboten: Nur weil man den richtigen Megatrend trifft, stimmt die Performance nicht automatisch. Ein historisches Beispiel: Obwohl vor über hundert Jahren die neu aufgekommene Automobilindustrie klar einem Megatrend folgte, wurde nicht jede Automarke automatisch erfolg­reich. Heute können wir dasselbe im Bereich der erneuerbaren Energien beobachten: Welche Unternehmungen und welche Technologien sich durchsetzen werden, ist offen. Zudem birgt jeder Trend einen Gegentrend, mit dem sich unter Umständen Geld verdienen lässt. Beispielsweise ist bei Lebensmitteln der Gegentrend zur Globalisierung, die Lokalisierung, sehr bedeutsam.»

Welcher Megatrend wird aus Ihrer Sicht zu wenig beachtet?

«Aus meiner Sicht wird der demografische Wandel – auch in der globalen Dimension – noch deutlich unterschätzt. Das liegt sicher unter anderem daran, dass er sich sehr langsam vollzieht. Aber er wird unsere Welt langfristig massiv verändern.»

Laut Roos ist das Bewusstsein zentral, dass die Zukunft nicht einfach passiert, sondern von jedem Individuum mitgestaltet wird – im Kleinen wie im Grossen. «Megatrends haben einen übergreifenden Einfluss auf unsere Zukunft. Doch innerhalb dieser Strömungen gibt es durchaus Einflusspotenziale», schlussfolgert er. Die Zukunftsforschung will dazu beitragen, diese Zukunftsgestaltung durch eine bessere Informationslage zu optimieren. Ob die Welt besser oder schlechter wird, lässt sich nicht abschliessend beantworten: «Meiner Meinung nach wird die Welt sowohl besser als auch schlechter – je nach dem betrachteten Aspekt und je nachdem, wie wir den kommenden Herausforderungen begegnen.»