Rudolf Minsch, Chefökonom und Leiter des Bereichs Wirtschaftspolitik von economiesuisse.

Im Fokus

«Kurzfristig den Gürtel enger schnallen, langfristig die Chancen sehen.»

«Vieles steht und fällt damit, wann ein Impfstoff kommt, wie sicher er ist und ob ausreichend davon zur Verfügung steht.»

Als Chefökonom und Leiter des Bereichs Wirtschaftspolitik des Wirtschaftsdachverbands economiesuisse ist der Bündner Rudolf Minsch unmittelbar am Puls der Wirtschaft und hat die Massnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise hautnah miterlebt. Im Interview erzählt er, welche Perspektiven er nach Covid-19 für den Kanton Graubünden sieht, welche Erkenntnisse er aus der Krise gewonnen hat und welche Chancen sie eröffnet.

Interview: Jan Söntgerath Fotos: Nicola Pitaro

Herr Minsch, das Corona-Virus hat die Schweizer Wirtschaft zeitweise fast zum Stillstand gebracht. Lässt sich der gesamtwirtschaftliche Schaden, den Corona in der Schweiz verursacht hat, beziffern?

Der Schaden ist immens. Wir befinden uns in der gröss­ten Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg und werden wohl einen Wirtschaftseinbruch von fünf bis sechs ­Prozent erleben. Aber die Wahrheit ist: Wir wissen es schlichtweg nicht. Vieles steht und fällt damit, wann ein Impfstoff kommt, wie sicher er ist und ob ausreichend davon zur Verfügung steht. Im besten Fall ist er bereits im Frühherbst verfügbar. Das würde für Zuversicht bei den Unternehmen sorgen. Dann wird es eine sehr viel kürzere U-Entwicklung geben (siehe Box) und 2021 endet mit Wachstum.

Die Krise trifft nicht alle Branchen gleich. Welche sind am stärksten betroffen?

Grundsätzlich sind alle Branchen negativ betroffen. Offensichtlichstes Beispiel sind die Gastronomie und der Tourismus. Und oft wird vergessen, dass mindestens die Hälfte des wirtschaftlichen Schadens für die Schweiz im Ausland entsteht. Das zeigt sich exemplarisch in der Uhrenindustrie. Für sie wird es ein miserables 2020. Auch die Maschinenindustrie ist betroffen, weil Investitionen storniert oder aufgeschoben werden.

Welche Branchen kommen mit einem blauen Auge davon?

Branchen wie Basiskonsumgüter und Versicherungen sind weniger betroffen. Die Pharmaindustrie ist ebenfalls relativ unberührt. Aber nicht gänzlich, weil zum Beispiel klinische Studien in Spitälern nicht durchgeführt werden konnten. Und natürlich wird es auch zu einer bleibenden Nachfrageverschiebung kommen. Beispielsweise werden nicht alle, die jetzt online eingekauft haben, zurück in die Läden gehen.

Was bedeutet der Einbruch im Tourismus für den Kanton Graubünden?

Für Graubünden bin ich vorsichtig optimistisch, obwohl die Verluste im Tourismus erheblich sind. Glücklicherweise war die Saison bis Ende Februar sensationell. Hinzu kommt, dass der Kanton Graubünden nicht so abhängig von chinesischen oder indischen Touristen ist wie etwa das Berner Oberland. Auch wenn die Situation ausserordentlich ist, sollte die Sommersaison mit Schweizer Gästen durchführbar sein, sodass der Einbruch teilweise kompensiert werden kann. Die weitere Perspektive hängt davon ab, ob es bis Jahresende einen Impfstoff gibt. Falls ja, gibt es eine starke Wintersaison, weil der Nachholbedarf gross ist. Ohne Impfstoff wird es schwierig.

Welche Lehren konnten aus der aktuellen Krise gezogen werden, um für künftige Krisen gewappnet zu sein?

Eine Erkenntnis ist, dass das Instrument der Kurzarbeit gut funktioniert und den Arbeitsmarkt entlastet. Ausserdem hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, das bestehende Instrumentarium bestmöglich zu nutzen und nur wenige neue Notmassnahmen zu beschliessen. Dass die Notkredite über die Banken abgewickelt werden und nicht über ein völlig neues Konstrukt, ist ein gutes Beispiel hierfür.

Wie können sich Unternehmen auf Krisen vor­bereiten?

Die Krise hat gezeigt, dass hart am Wind segeln eine Schönwetterstrategie ist. Mit wenig Eigenkapital, wenig Rückstellungen und wenig Liquidität den Profit zu maximieren, ist fahrlässig. Zum Glück ist das in der Schweiz eher die Ausnahme. Jetzt zeigt sich: Solide, vorsichtig agierende Unternehmen sind nicht langweilig, sondern gut gerüstet für eine Krise.

Fünf Szenarien für die Wirtschaft

Welche Chancen eröffnet die Corona-Pandemie?

Ein positiver Effekt auf betrieblicher Ebene ist die Digitalisierung. Und der Effizienzgewinn ist klar ersichtlich. Auch die Digitalisierung in der Schule sehe ich als sehr positiv. Es geht verstärkt um selbständiges Arbeiten. Das ist extrem wichtig für die Schweiz, um eigenständig denkende, kreative Arbeitskräfte zu haben.

Hat die Corona-Krise unser Denken und Handeln verändert?

Vergangene Krisen haben gezeigt, dass wir erstaunlich schnell wieder zu den alten Gewohnheiten übergehen. Weil die Corona-Krise aber so eingreifend und lange war, sind Verhaltensänderungen zu erwarten.

Zum Beispiel?

Die Gesellschaft ist zusammengerückt. Man hilft einander stärker und pflegt den sozialen Austausch. Einen gut bezahlten Job mit guten Arbeitsbedingungen zu haben, wird mehr geschätzt. Ich hoffe, das hält über die Krise hinaus an. Angst habe ich davor, dass nun alle Probleme auf den Staat abgewälzt werden. Es ist klar, dass der Staat in dieser ausserordentlichen Situation helfen musste und dies auch getan hat. Aber die eigentlichen Problemlöser müssen die Firmen und jeder Einzelne sein. Ich bin überzeugt, dass mehr Staat nicht die Lösung sein kann, sondern vielmehr die Stärkung der Eigenverantwortung.

Zum Schluss ein Blick in die Zukunft. Wie geht es nach Corona weiter?

Niemand ist Prophet, und gerade wir Ökonomen sind dafür bekannt, Prognosen schnell wieder anpassen zu müssen. Die Krise wird einiges verändern, aber die Welt geht nicht unter. Vielleicht müssen wir den Gürtel kurzfristig etwas enger schnallen, aber auf der anderen Seite eröffnen sich auch wieder neue Chancen.