■ Im Fokus
Optimismus trotz konjunktureller Abkühlung.
Interview: Fabienne Farner Fotos: Nicola Pitaro
Föderalismus, vier Landessprachen, eine direkte Demokratie, die innovativste Volkswirtschaft, das weltweit beste Hochschulsystem und mindestens ebenso gute Schokolade: Das sind nur wenige der Merkmale, welche die Schweiz auszeichnen. Doch wie prägen die Besonderheiten der Schweiz ihre Konjunkturentwicklung? Welche Chancen und Risiken bieten sich Anlegerinnen und Anlegern bei einer anhaltend hohen Inflation und einem unterdurchschnittlichen Wirtschaftswachstum? Im Gespräch mit Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm, Professor für Wirtschaftsforschung und Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle an der ETH Zürich, rückt der Wirtschaftsstandort Schweiz in den Fokus.
Die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) prognostizieren eine konjunkturelle Abkühlung für das Jahr 2023. Doch bedeutet das, dass die Schweiz mit einer Rezession rechnen muss? Laut Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm sind die niedrigsten Wachstumsraten im letzten Winter aufgetreten und positiv geblieben, sodass die Schweiz an einer technischen Rezession vorbeigeschlittert ist. Für das laufende Jahr rechnet die KOF in ihrer aktuellen Konjunkturprognose mit einem positiven Wachstum von knapp einem Prozent. Als kleine, offene Volkswirtschaft ist die Schweiz stark von der Wirtschaftsentwicklung ihrer ausländischen Handelspartner abhängig – und die Weltwirtschaft ist, auch wegen der hohen Inflation und der gestiegenen Zinsen, ins Stocken geraten. Insbesondere darauf sind die unterdurchschnittlichen Wachstumsprognosen für die Schweiz im Jahr 2023 zurückzuführen.
Jedes Umfeld bietet Chancen
Der Begriff «Konjunkturrisiken» ist in aller Munde und wird oft im Zusammenhang mit Wirtschaftsprognosen genannt. Doch was verbirgt sich hinter diesem Begriff? «Für jede Prognose müssen Annahmen getroffen werden», sagt Sturm. Und weiter: Einerseits ist das die Annahme, dass sich die Wirtschaftsakteure in Zukunft ähnlich verhalten wie in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite beispielsweise auch, dass der Krieg in der Ukraine nicht weiter eskaliert und sich nicht geografisch ausweitet oder dass in China im Prognosezeitraum keine Immobilienkrise ausbricht. Leider können Konjunkturprognostikerinnen und -prognostiker solche Situationen nicht kategorisch ausschliessen, ebenso wenig wie eine nächste Bankenkrise, eine erneute Pandemie oder eine Umweltkatastrophe mit grossen wirtschaftlichen Auswirkungen. Solche Ereignisse können nicht so einfach vorhergesagt werden, wirken sich aber dennoch auf die Wirtschaft aus.
Heisst das, dass die Schweiz nach der Übernahme der Credit Suisse durch die UBS weitere Unruhen auf dem Finanzplatz erwarten könnte? «Hätten die Expertinnen und Experten mit solchen Risiken gerechnet, wären sie bereits in die Prognose eingeflossen,» kommentiert der Professor für Wirtschaftsforschung. Die makroökonomischen Auswirkungen der CS-Übernahme sind gemäss der Einschätzung der KOF überschaubar. Das Institut rechnet in seiner aktuellen Konjunkturprognose nicht mit einer ausgeprägten Krise wie in den Fällen der Finanzkrise 2008/2009 oder der Eurokrise.
Auf Unternehmensebene gilt: Jedes Umfeld bietet Chancen. Der Direktor der KOF sieht im jetzigen Umfeld auch Konjunkturchancen: «In der Regel ist es einfacher, sich negative Risiken vorzustellen.» Es kommt aber auch vor, dass sich die Wirtschaft besser entwickelt als erwartet. Der vergangene Winter war nicht zuletzt aufgrund der überraschend milden Wetterbedingungen weniger einschneidend als befürchtet. Auch die kommenden Monate könnten sich besser entwickeln als prognostiziert, wenn beispielsweise die Inflationserwartungen und das damit verbundene Preissetzungsverhalten sowohl auf den Produkt- als auch auf den Arbeitsmärkten gedämpfter ausfallen.
«Wir haben gelernt, aber noch lange nicht ausgelernt.» Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm, Professor für Wirtschaftsforschung und Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle an der ETH Zürich
Erfolgsrezept Schweiz
Die Schweiz ist ein einzigartiger Wirtschaftsstandort. Zum einen befinden wir uns auf einer Hochpreisinsel in Europa. Dies führt dazu, dass die einheimische Wirtschaft stark auf Nischenprodukte und Qualität ausgerichtet ist. Darüber hinaus kombiniert die Schweiz ein sehr stabiles politisches Umfeld mit flexiblen Arbeitsmarktstrukturen – ein Erfolgsrezept. Ein weiterer Wettbewerbsvorteil ist das Schweizer Bildungssystem mit Spitzenforschung sowie dualem Berufsbildungssystem, welches hochwertige Produkte und Dienstleistungen für die Weltwirtschaft ermöglicht, kommentiert Sturm. Gerade im Bereich der Innovation spielt das Bildungssystem eine wesentliche Rolle. Daraus entwickelte sich eine Eigendynamik, die dazu führt, dass Studierende, Akademiker und Unternehmen, die auf hochqualifiziertes Personal angewiesen sind, gerne in die Schweiz kommen und auch bleiben wollen. Zudem ist die hohe Lebensqualität in der Schweiz ein wichtiger Faktor bei der Rekrutierung von Fachkräften und Talenten. Gemäss Sturm sind diese Zutaten Teil des Erfolgsrezeptes Schweiz.
Doch die Schweiz ist auch kulturell einzigartig durch ihre Sprachregionen, die sich unterschiedlich spezialisiert haben. Man denke an Basel mit seinem Pharma-Cluster. «Wenn man an den Schweizer Finanzsektor denkt, fallen einem sofort Zürich, Genf und Lugano ein, der politische Dreh- und Angelpunkt ist Bern, und beim Thema Wintertourismus denkt man sofort an Graubünden und das Wallis.»
Stolperstein Föderalismus
Dennoch wurde die Schweiz nicht von den jüngsten Krisen wie der Covid-19-Pandemie, der Energiekrise und den Auswirkungen des Ukraine-Krieges verschont. Laut Sturm wurde aus wirtschaftspolitischer Sicht mit den Krisen klüger umgegangen, als es wahrscheinlich in der Vergangenheit der Fall gewesen wäre: «Wir haben gelernt, aber noch lange nicht ausgelernt.» Während der Pandemie halfen Kurzarbeitsregelungen und staatlich garantierte Covid-19-Kredite den Unternehmen, die Krise besser zu bewältigen. Allerdings zeigte sich bei der zweiten Pandemiewelle, dass das föderale System in schnellen Entscheidungsprozessen Schwächen aufweist.
Eine wichtige Erkenntnis aus der Pandemie ist gemäss Sturm, dass durch den Trend zur Reduzierung von Lagerbeständen schnell Lieferengpässe und Preisschübe bei einer gesteigerten Nachfrage auftreten. Trotzdem ist die Deglobalisierung im internationalen Wettbewerb nicht unbedingt von Nachteil für die Schweizer Wirtschaft, da Qualität und Zuverlässigkeit wieder vermehrt geschätzt werden. Obschon Branchen wie das Gastgewerbe sich mit grossen Herausforderungen konfrontiert sehen, hielt sich der gesamtwirtschaftliche Schaden der jüngsten Krisen in der Schweiz in Grenzen.
Inflationsinsel in Europa
Ein Blick über die Schweizer Grenze hinweg zeigt, dass die Inflationsraten hierzulande weit unter denen der Nachbarländer liegen. Einen Grund für die niedrigen Inflationsraten in der Schweiz sieht Sturm in der starken Währung, die in volatilen Zeiten stark nachgefragt wird. Die damit einhergehende Aufwertung macht importierte Güter und Dienstleistungen günstiger und mindert den Preisanstieg im Inland. Die Strompreise sind in der Schweiz stärker reguliert und schwanken daher weniger stark. Die Spezialisierung auf Nischenmärkte und die starke Abschottung des Agrarsektors sind weitere Faktoren, die die Schweizer Inflationsentwicklung positiv beeinflussen. Dies stimmt – trotz unterdurchschnittlicher Wachstumsprognosen für das laufende Jahr – optimistisch. ■
Steckbrief Prof. Dr. Jan-Egbert Sturm
Funktion: Professor für Wirtschaftsforschung und Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich
Jahrgang: 1969
Familie: verheiratet, zwei Kinder
Ausbildung: PhD, Rijksuniversiteit Groningen, Niederlande
Diversifizierter Industriesektor von Bedeutung.
Roman Bättig
Head Macro Research Graubündner Kantonalbank


Roman Bättig
Head Macro Research Graubündner Kantonalbank
Diversifizierter Industriesektor von Bedeutung.
Die Energieknappheit sowie die Lieferkettenverzögerungen sind vorerst mehrheitlich vom Radar der Schweizer Unternehmen verschwunden. «Worst-Case»-Szenarien haben sich im laufenden Jahr somit nicht bewahrheitet. Wir werten dies als positives Signal für die Schweizer Wirtschaft. Die konjunkturelle Entwicklung präsentiert sich mehrheitlich robust. So legen beispielsweise die Warenexporte zu. Auf der anderen Seite stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz zum Jahresstart 2023. Aufgrund des Wachstumsstillstandes in der Eurozone im gleichen Zeitraum überrascht dies auf den ersten Blick wenig. Die Konjunkturzyklen der Eurozone und der Schweiz bewegen sich jedoch nicht im Gleichschritt. Dies spiegelt zum Teil den diversifizierten Industriesektor der Schweiz mit einer bedeutenden Pharmaindustrie wider. Diese ist vergleichsweise wenig konjunkturanfällig. Selbst wenn sich die globale Wirtschaft abkühlt, sparen Konsumenten aus den Industriestaaten nicht als Erstes beim Gesundheitswesen. Zudem hält sich die Binnennachfrage nach wie vor gut. Die Konsumentinnen und Konsumenten sind zuversichtlich, und die Arbeitslosenrate ist auf einem sehr tiefen Stand. Wir erwarten deshalb in der Schweiz im laufenden Jahr keine Rezession. Die Schweizer Wirtschaft wird 2023 und 2024 aber unter Trend wachsen. Für 2025 erwarten wir die Rückkehr zu einem stärkeren Wachstum, da der Inflationsdruck nachlassen wird und sich die Weltwirtschaft erholt. ■